Muskelverkürzungen

Aktuelle Studienlage

Einleitung

Immer wieder hört man Leute von Muskelverkürzungen sprechen. Vor allem Personen, die viel im Büro und vor dem Laptop sitzen, klagen von Bewegungseinschränkungen im Bereich der Hüfte und der Brustwirbelsäule. Sie hören oft, dass sich aufgrund der Sitzhaltung die Muskeln in diesen Bereichen „verkürzen“. Oft wird auch behauptet, dass Muskelverkürzungen, vor allem im Sport, als Risikofaktor für Muskelverletzungen eingestuft werden. In letzter Zeit ist das Wort „Muskelverkürzung“ in sportwissenschaftlichen und physiotherapeutischen Kreisen etwas in Verruf geraten.

Das Wort „Muskelverkürzung“ ist in der Physiotherapie und Sportwissenschaft oft umstritten, weil es eine vereinfachte und möglicherweise irreführende Beschreibung eines komplexen physiologischen Phänomens ist. In vielen Fällen ist es nicht der Muskel selbst, der verkürzt ist, sondern eher eine Folge von Veränderungen im Muskeltonus, in der Flexibilität der umgebenden Gewebes oder in der biomechanischen Ausrichtung des Körpers. Verwenden von „Muskelverkürzung“ könnte dazu führen, dass die zugrunde liegenden Ursachen nicht vollständig verstanden oder behandelt werden. Stattdessen bevorzugen viele Fachleute differenziertere Begriffe und Konzepte, um die zugrunde liegenden Mechanismen und Behandlungsansätze genauer zu beschreiben.

Aber: Viele Personen sind nach wie vor der Überzeugung, Muskeln können sich nicht strukturell verkürzen und das eingeschränkte Bewegungsausmass hängt ausschliesslich von der neuronal bedingten Spannung ab („funktionelle Verkürzung“). Es wurde mit Beobachtungen, die unter Narkose gemacht wurden (unter Narkose hatten die Personen einen weitaus grösseren Bewegungsradius) untermauert.

Passende Aussage dazu von Dr. Dr. Homayun Gharavi in einem Interview mit Netzathleten vom Jahr 2015: „Ein gesunder Muskel ist nicht verkürzt, sondern die neuronale Ansteuerung hält ihn in einer Position, die ihn verkürzt aussehen lässt. Sobald man die Nerven in der Anästhesie „schlafen gelegt“ hat, ist die vermeintliche Verkürzung nicht mehr gegeben. Man kann dann beispielsweise das gestreckte Bein bis ans Ohr legen“.

Moosburger und Markmann (2013) stellten ebenso die Behauptung auf, dass die Länge eines Muskels immer gleich ist und die Anzahl bzw. Länge der in Serie geschaltenen Sarkomere sich nicht ändern kann. Laut seinen Aussagen ändert sich die Muskellänge nur bei einer Kontraktion (also beim anspannen des Muskels) und nimmt im Anschluss wieder seine ursprüngliche Länge ein. Laut diesen Aussagen kommt die eingeschränkte Beweglichkeit also immer vom Nervensystem. .Diese vermeintliche “Muskelverkürzung“ ist laut den beiden Autoren aber nichts anderes als eine eingeschränkte Flexibilität bzw. Dehnfähigkeit. Sie bezeichnen es als eine verminderte Toleranz gegenüber einer Dehnungsspannung.

Um diese Aussagen zu bestätigen, müsste man jedoch den Muskel selbst untersuchen. Einige Studien, wenn auch noch nicht viele, gibt es dazu.

Nun zur Frage: Können Muskeln überhaupt strukturell „verkürzen“? Wie sieht die wissenschaftliche Lage dazu aus?

Der Muskel

Quelle: https://leistungslust.de/artikel/der-muskelkater/

Zuerst geht es einmal darum zu wissen, wie es „im Inneren“ eines Muskels überhaupt aussieht.

Jeder Muskel besteht aus Muskelbündeln, Muskelfasern, Myofibrillen, Sarkomeren und den Aktin- und Myosinfilamenten. Diese Filamente ziehen sich bei einer Muskelkontraktion zusammen und gleiten ineinander. Dies ist die Grundlage für unsere Muskeltätigkeit. Ausgehend davon gibt es für die Kontraktion eine optimale Länge der Filamente, bei der sie am meisten Kraft generieren können. Sind diese zu weit auseinander, oder gar zu eng, können sie nicht ihr ganzes Potenzial entfalten und erzeugen weniger Kraft.

Muskeln haben ebenso einen vorgegebenen Bewegungsumfang. Dieser kann sich reduzieren, wenn man diesen nicht „verwendet“. Ein Beispiel dazu:

Beim Handball sollte man grundsätzlich weit ausholen können, damit man einen möglichst guten und weiten Beschleunigungsweg hat (dieser ist aber auch individuell weiter oder kürzer). Wenn man aber z.B. länger nicht mehr gespielt hat, oder gar verletzt war, schränkt sich der Bewegungsumfang ein und man kann nicht mehr die Kraft generieren, die man gerne möchte. Die Frage, durch welchen Mechanismus dieser Bewegungsradius eingeschränkt wird, bleibt nun offen. Liegt es rein am zentralen Nervensystem oder kommt es tatsächlich zu strukturellen Veränderungen?

Studienlage zu Muskelverkürzungen

Funktionell vs. strukturell

Studien, die für strukturelle Verkürzungen sprechen

Csapo et al. führten 2010 eine Studie durch, in der sie die strukturellen und funktionellen Veränderungen beim Tragen von High Heels untersuchten, da beim Tragen von High-Heels die Wadenmuskulatur sich in einer verkürzten Position befindet. Es wurden 11 Frauen, die regelmäßig High Heels tragen, und 9 Frauen, die grundsätzlich flache Schuhe tragen, für diese Studie herangezogen. Für die Untersuchung wurde die Länge des Gastrocnemius (Wadenmuskel) sowie die Länge und Querschnittsfläche der Achillessehne gemessen. In der High Heels-Gruppe wurden tatsächlich eine strukturelle Verkürzung des Gastrocnemius sowie eine erhöhte Steifigkeit der Achillessehnen beobachtet, was den aktiven Bewegungsumfang des Sprunggelenks einschränkt.

Diese Ergebnisse stützen die Hypothese, dass die Muskelstruktur sich an eine chronische Veränderung der funktionellen Anforderungen anpassen kann.

Die Forschungsgruppe um Coutinho et al. untersuchte im Jahr 2004 wie sich die Muskelfasern verhalten, wenn der m. soleus von Ratten immobilisiert wird. Es wurden 3 Gruppen gebildet: a) Soleus wurde in verkürzter Position immobilisiert, b) Muskel wurde immobilisiert und jeden dritten Tag gedehnt, c) nicht immobilisierter Muskel wurde gedehnt. Es wurde jeweils ein Bein zum Testen verwendet, das andere Bein blieb unangetastet und wurde auch zum Vergleich herangezogen. Gruppe a zeigte einen signifikanten Abfall an Gewicht, Länge und Anzahl aneinandergereihte Sarkomere. Gruppe b zeigte ähnliche Ergebnisse, aber mildere Muskelfaser Atrophie im Vergleich zu Gruppe a. Bei Gruppe c nahmen die Länge, die Anzahl der seriellen Sarkomere und die Faserfläche im Vergleich zu den kontralateralen Muskeln signifikant zu. Diese Studie wurde mit Tieren durchgeführt und muss natürlich wieder vorsichtig bewertet werden, aber auch diese Studie gibt Hinweise auf eine strukturelle Verkürzung.

Aus diesen Studien könnte man demnach folgendes ableiten:

Immobilisationen beziehungsweise dauerhafte Haltung in einer muskulär verkürzten Position könnten also auch zu strukturellen Muskelverkürzungen führen. Dabei scheint es eine untergeordnete Rolle zu spielen, ob die Muskeln permanent in einer verkürzten Stellung gehalten werden (Gipsverband) oder dies nur gelegentlich über mehrere Stunden am Tag erfolgt (hohe Schuhabsätze).

Es lässt sich also festhalten: Bei einer Muskelverkürzung nimmt wohl die Anzahl der in Serie geschaltenen Sarkomere ab. Somit ist die Muskulatur und das umgebende Bindegewebe weniger dehnbar (Williams & Goldspink, 1978).

Laut Freiwald (2009) kommt es zunächst also zu funktionellen Bewegungseinschränkungen, in zeitlicher Folge und bei täglich wiederkehrenden Gewohnheits- und Zwanghaltungen kann es aber wohl zu strukturellen Verkürzungen der Muskulatur kommen. Die strukturellen Verkürzungen sind laut seinen Aussagen aber nur in seltenen Fällen das Problem.

Der endgültige Beweis ist dies natürlich immer noch nicht, da noch mehr Studien zu diesem Thema gemacht werden müssen und die Studienlage noch relativ dünn ist.

Offen bleibt auch, ab wann aus einer „funktionellen Verkürzung“ wirklich eine „strukturelle Verkürzung“ wird.

Was tun gegen mögliche Einschränkungen?

Um etwaige Einschränkungen am Bewegungsapparat zu vermeiden, gibt es mehrere Möglichkeiten. Dehnen und Mobilisieren bieten sich dazu sehr gut an (vgl. Blog-Beitrag „Dehnen/Beweglichkeit“). Wichtig ist jedoch zu betonen, dass sich Krafttraining über den vollen Bewegungsradius günstiger auf die Beweglichkeit auswirkt, als reine Muskeldehnungen. Eine Studie von Williams (1990) zeigt, dass wohl erst nach einer 30 minütigen Dehnung (pro Tag) wirklich signifikante strukturelle Effekte erreicht werden können. Da diese Studie an Mäusen durchgeführt wurde, kann man diese nicht automatisch auf Menschen übertragen. Sie zeigt lediglich, dass es wohl lange Dehnungen benötigt, um etwas zu erreichen. Krafttraining über den vollen Bewewegungsradius scheint demnach effektiver und vor allem effizienter.

Durch Krafttraining über den vollen Bewegungsradius (full range of motion) stärkt man den Muskel und macht ihn gleichzeitig beweglicher.

 Muskuläre Dysbalancen und “Verkürzungen“ können mit Dehnen und Mobilisationen also nur zum Teil effektiv behandelt werden. Ein Krafttraining mit großen Bewegungsreichweiten ist die bessere Option.

Zweckmäßig durchgeführtes Krafttraining steigert demnach auch die Beweglichkeit (Moosburger & Markmann , 2013).

Bei Foam Rolling mit der Massagerolle hingegen kann man nur mit einer kurzfristigen Beweglichkeitsverbesserung vor allem durch Einflüsse auf das zentrale Nervensystem rechnen. Strukturell erreicht man mit diesen Rollen wohl keinen Effekt (Wilke et al., 2020).

Fazit

Insgesamt zeigt sich, dass Bewegungseinschränkungen ein komplexes und multifaktorielles Phänomen sind, das nicht allein auf strukturelle Veränderungen zurückzuführen ist. Die Diskussion um Muskelverkürzungen erfordert daher ein differenziertes Verständnis, das auch andere Einflussfaktoren wie Muskeltonus, Biomechanik und individuelle Anatomie berücksichtigt. Obwohl einige Studien strukturelle Veränderungen bei Muskelverkürzungen nahelegen, bleibt die Forschung auf diesem Gebiet noch lückenhaft, und weitere Untersuchungen sind erforderlich, um die zugrunde liegenden Mechanismen vollständig zu verstehen.

Es ist also wichtig zu betonen, dass Bewegungseinschränkungen nicht ausschließlich durch Muskelverkürzungen erklärt werden können, sondern auch durch andere Faktoren bedingt sein können. Dennoch zeigen einige Studien, dass strukturelle Muskelverkürzungen tatsächlich auftreten können, insbesondere wenn die Anzahl der in Serie geschalteten Sarkomere abnimmt. Jedoch ist diese Verkürzung nicht zwangsläufig dauerhaft, da durch geeignete Trainingsmethoden der Bewegungsumfang wiederhergestellt werden kann, insbesondere durch Krafttraining über den vollen Bewegungsradius.

Das Hauptproblem liegt oft darin, dass Bewegungseinschränkungen fälschlicherweise ausschließlich durch Muskelverkürzungen erklärt werden, obwohl viele andere Faktoren eine Rolle spielen können.

Ob ein Muskel tatsächlich verkürzt ist, kann man, solange man keinen Blick ins Muskelinnere wirft, nie sagen. Für das Training ist das jedoch nicht relevant, da eine Bewegungseinschränkung sowieso mit den selben Trainingsmethoden wiederhergestellt werden kann, unabhängig davon, ob der Muskel nun strukturell verkürzt ist oder nicht.

Literatur

Coutinho, E. L., Gomes, A. R. S., Franca, C. N., Oishi, J., & Salvini, T. F. (2004). Effect of passive stretching on the immobilized soleus muscle fiber morphology. Brazilian Journal of Medical and Biological Research, 37(12), 1853-1861.

Csapo, R., Maganaris, C. N., Seynnes, O. R., & Narici, M. V. (2010). On muscle, tendon and high heels. Journal of Experimental Biology, 213(Pt 15), 2582-2588. doi:10.1242/jeb.044271

Freiwald, J. (2009). Optimales Dehnen: Sport – Prävention – Rehabilitation.

Moosburger, K., & Markmann, T. (2013). Was ist dran am Dehnen (Stretching)? – Fakten und Mythen. Sport- und Präventivmedizin, 43(3-4).

Williams, P. E. (1990). Use of intermittent stretch in the prevention of serial sarcomere loss in immobilised muscle. Annals of the Rheumatic Diseases, 49(5), 316-317.

Leading Medicine Guide Redaktion. (2017, 28 Juni). Muskeln – Funktionen, Aufbau und Erkrankungen. https://www.leading-medicine-guide.com/de/anatomie/muskulatur. Zugriff: 18.04.2024

Williams, P. E., & Goldspink, G. (1978). Changes in sarcomere length and physiological properties in immobilized muscle. Department of Zoology, University of Hull, Hull HU6 7RX.

Wilke, J., Müller, A. L., Giesche, F., Power, G., Ahmedi, H., & Behm, D. G. (2020). Acute Effects of Foam Rolling on Range of Motion in Healthy Adults: A Systematic Review with Multilevel Meta-analysis. Sports Medicine, 50(2), 387-402. doi:10.1007/s40279-019-01205-7

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Autor: Alexander Wassung 

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